Sonntag, 26. November 2023

Napoleon - Ridley Scott

Natürlich war auch ich am Donnerstag im Film „Napoleon“.



Ich hatte mir bewusst vorher keine Kritiken angehört oder gelesen.
Ich wollte mich da überraschen lassen.
Generell bin ich ein Mensch, der bei Historienverfilmungen historische Ungereimtheiten oder gar grobe Schnitzer ausblenden kann.
Wenn der „Zeitgeist“, das „Gefühl für die Epoche“ stimmt, ist es mir egal, was jetzt im Detail falsch ist.
Knöpfchen kann ich anderswo zählen, wenn mir danach ist.
Aufgrund dieser Einstellung waren mir die von den Schotten in Braveheart getragenen Kilts egal.
Störte es mich nicht, dass bei „Der letzte Mohikaner“ der Uniformschnitt der Briten falsch war.
Suchte ich bei „Der Patriot“ nicht nach historischen Fehlern, sondern freute mich einfach, dass hier das Vorgehen der Bataillone in der Linie, und der vorherige Beschuss der Artillerie einfach sehr gut dargestellt worden war.
Auch die völlig falsche Abbildung von WN 62 am Omaha Beach in „Der Soldat James Ryan“ war mir egal.
Dass bei der Neuverfilmung von „im Westen nichts Neues“ der Saint-Chamond Panzer die falschen Laufrollen hatte, juckte mich jetzt ebenfalls nicht.
Auch nicht, Jahrzehnte zuvor, dass bei dem Film „Patton“ noch moderne Panzer als „Modelle“ für die historischen Panzer herhalten mussten.
Der Fantasy Tiger in „Stoßtrupp Gold“ hatte sogar einen solchen Charme, dass er mittlerweile von Warlord Games als Modell herausgebracht wurde. Also auch egal.
Ich könnte diese Liste jetzt weiterführen, aber ich will es bei diesen Beispielen belassen.
Entscheidend für einen historischen Film sind für mich die folgenden Faktoren.
Erstens, dass Produzenten und Regisseure überhaupt den Mut haben sich an einen historischen Film und ein vermeintlich nicht zeitgemäßes Thema heranzuwagen. Wer sich dann auch noch traut einen solchen Film in Überlänge zu produzieren, und den Zuschauer somit zwingt Stunden in seinem Kinositz zu verbringen, der hat Respekt verdient. Einfach nur deshalb, weil er an sein Projekt glaubt, und weil es ihm egal ist, dass angebliche Statistiken ja heutzutage nachweisen, dass der digitale Mensch sich maximal 45 Minuten konzentrieren kann.
Zweitens, dass der Film so gedreht ist, dass er die modernen filmischen Mittel, die heute zur Verfügung stehen, so nutzt, dass eine Verbesserung der Bilder im Vergleich zu den oftmals zitierten „Klassikern“ der Filmgeschichte auch klar auf der Leinwand erkennbar ist.
Drittens, dass die Hauptdarsteller passen.
Viertens, dass neben den Hauptdarstellern auch die Charaktere anderer historischer Personen ausgeformt werden.
Fünftens, dass der Film als solches in der Lage ist die Story „fließen zu lassen“, somit also abrupte Brüche vermeidet und den Zuschauer durch die Epoche führt.
Sechstens, dass Kostüme und Drehorte des Films schlüssig sind und auch stimmen.
Punkt 1, 2 und 3 kann „Napoleon“ auf der Habenseite verbuchen.
Punkt 4 und 5 nicht.
Punkt 6 nur bedingt.
Ich bin jetzt schon seit zwei Tagen am Grübeln, denn im Grunde will ich mein krasses negatives Urteil, dass ich nach dem Kinobesuch hatte, revidieren.
Aber… es gelingt mir nicht wirklich.
Das Hauptproblem des Films, jedenfalls für mich, liegt darin, dass ich eine klare Ausformung des Themas vermisse.
Der Film galoppiert durch Napoleons Leben. Das ist definitiv ein Problem. Nicht ohne berechtigten Grund merken viele Kritiker an, dass es hier sinnvoller gewesen wäre, eine Serie zu drehen, anstatt einen Film. Selbst die 158 Minuten lange Kinoversion des Films ist einfach zu kurz, um alle Problematiken zu fassen.
Dann ist der Wechsel zwischen Liebesfilm und Actionfilm nicht gelungen.
Persönlich hätte ich mir gewünscht, nachdem ich diesen Film gesehen habe, dass man die Schlachtszenen einfach weggelassen hätte, weil sie eh völlig falsch sind.
Die Ausformung der doch sehr speziellen Beziehung zwischen Napoleon und Josephine hätte mich tatsächlich erfreut.


Mehr Politik, mehr Intrigen.
Nur mal ein Beispiel. Zwar kommen im Film der Bruder Napoleons Lucien, seine Mutter Laetitia und auch die Kinder Josephines Hortense und Eugène vor, aber was ist mit der ganzen anderen, doch sehr intriganten Sippschaft.
Für einen heutigen Film Potential ohne Ende. Wer das in Perfektion sehen will, der soll sich die Serie „Domina“ anschauen, die das Leben der Gattin Kaisers Augustus nachzeichnet.
Vor dem Anschauen des Films hätte ich übrigens anderes gesagt.
Natürlich habe ich auf große Schlachten gehofft.
Auf die entsprechenden historisch genauen Schlachtabläufe. Immerhin zeichnet Ridley Scott für Gladiator und Black Hawk Down verantwortlich; und in diesen beiden Filmen sind die Schlachtszenen ja richtig gut.
Allerdings hätte ich auch vorgewarnt sein können.
Immerhin landen in seinem Film „Robin Hood“ französische, mittelalterliche Landungsboote an den Küsten Englands an, und ja, da gehen tatsächlich die Landungsklappen am Bug auf. So wie bei Landungsbooten im Zweiten Weltkrieg.
Eine filmische Darstellung, die mich damals mit offenem Mund zurückließ.
D-Day im Sherwood Forrest.
Unfassbar.
Genau das, im übertragenen Sinne, erleben wir jetzt leider auch bei Napoleon.
Soldaten in Schützengräben, die vor einem Zeltlager kämpfen.
Abgedeckte Kanonen bei Austerlitz.
Rennende Soldaten im Bajonettkampf.
Und, und, und…
Da wird die napoleonische Kriegsführung gar nicht erkannt.
Das weite Operieren, die Blöcke massiver Bataillone, der Einsatz der berittenen Artillerie.
Kommt alles nicht vor.
Bei Ridley Scott kämpft man in „Wagenburgen“. So ähnlich wie in einem Western.
In der ersten Schlacht, Toulon, wirkt das noch anders.
Zwar sehr weit interpretiert, aber doch stimmig. Filmisch, nicht historisch, stimmig.
Die anderen gezeigten Schlachten – Pyramiden, Austerlitz, Borodino, Waterloo – eine Katastrophe.
Da stimmt einfach nichts.
Das hat tatsächlich das Niveau einer kleineren Reenactment-Veranstaltung.
Da rennen unterschiedlich uniformierte Soldaten im Uniformmix herum, genauso als ob sie einen Schützengraben des Ersten Weltkriegs stürmen wollten.
Da wird – filmtechnisch super dargestellt, mit viel Drama und großen Effekten – die Eisfläche der Satczaner und Mönitzer Teiche zum eigentlichen Schlachtfeld bei Austerlitz. Das erinnert dann schon an „King Arthur“, wo Dagonet, dargestellt vom leider viel zu früh verstorbenen Ray Stevenson, die Eisfläche mit seiner Axt zerhackte und die bösen Sachsen ertrinken ließ.
Muss ich hier erwähnen, dass die Darstellung falsch ist?
Ich glaube nicht.


Der Beschuss der Pyramiden. Unsinn. Ging nicht, weil zu weit weg.



Aber es sieht halt auf der Leinwand nett aus, wo die Spitzen der Pyramiden anfangen zu bröckeln, und wohl herabfallende Steine den gegnerischen Anführer töten.
Borodino war so schnell erledigt, dass ich gar nicht erkannte, was das sein sollte. Die Schlacht ergab sich aus der Zeitreihe, nicht aus der Darstellung.


Na und Waterloo???
Ein echtes Waterloo.
Die größte Niederlage im Feld, als die größte Niederlage des Films.
Einfach vergessen.


Die Schlachtszenen kann nur jemand gut finden, der sich nie mit der napoleonischen Kriegsführung beschäftigt hat.
Mich hat es vom Niveau an die Verfilmung der Lederstrumpfgeschichten mit Helmut Lange erinnert.
Aber das war Fernsehen in einer anderen Zeit, und nicht Kino mit den heutigen Möglichkeiten.
Wie man es anders und besser machen kann, haben „Der Patriot“ und vor allem die Darstellung der Schlacht bei Gaugamela in „Alexander“ gezeigt.
Das muss heute als Maßstab gelten.
Dass man dann auch noch Napoleon aufs Pferd setzt und persönlich ins Schlachtengetümmel reiten lässt, ist natürlich totaler Nonsens.



Vor allem muss man das auch nicht.
Der wütende Napoleon, gespielt von Rod Steiger im Film „Waterloo“ ist so viel überzeugender.
Da sieht und erkennt man den Feldherrn, den enttäuschten, verzweifelten, wütenden Feldherrn.
Und um das darzustellen, muss man nicht völlig sinnfrei den Kaiser im gemischten Kavalleriepulk, bestehend aus ein paar Husaren, Dragonern und Kürassieren herumgaloppieren lassen.
A propos Feldherr.
Obwohl ich Joaquin Phoenix irgendwie als sehr gute Wahl für die Rolle empfinde, gelingt es ihm nicht den Feldherrn, Kaiser und Politiker überzeugend darzustellen.
Was in Erinnerung bleiben wird, ist vor allem, dass Napoleon seine Frau in einer ganz speziellen Form von „Speedsex“ zehn Sekunden von hinten weghämmert, er im Vorfeld seine Avancen grunzend vorträgt, er über Leitern und Treppen stolpert, und sich dann irgendwo nach 1,5 h Filmzeit die Krone aufsetzt.
Wird man so Napoleon gerecht?
Nein.
Auch wenn ich persönlich ja bekennender Napoleon Fan bin – Vive L’Empereur -, hätte es mich nicht gestört, wenn man sein Leben in diesem Film sehr kritisch dargestellt hätte.
Sogar antinapoleonisch wäre für mich o.k. gewesen, denn das wäre eine Frage von Sichtweisen.
Aber das hier grenzt dann doch an Propaganda und Diffamierung.
Nicht bezogen auf den ganzen Film; denn es gibt auch viele gute Szenen.
Aber ich befürchte, dass nur das oben beschriebene hängenbleiben wird;
Und das ist sehr schade.
Die Darstellung der Jospehine durch Vanessa Kirby ist dagegen extrem gut gelungen.




Jedenfalls empfinde ich das so.
Und weil sie die Rolle eben so gut spielt, hätte ich mir persönlich eher das Familiendrama gewünscht, und nicht diesen Genremix zwischen Schmalz und falscher Action.



Um noch einmal zu den obigen Punkten zurückzukommen.
Nur die Personen von Barras und Talleyrand bekommen einen gewissen Platz in der Geschichte.



Alle anderen stehen nur als Statisten herum. Somit wird Punkt 4 nicht erreicht.
Punkt 5 scheitert, weil dann doch zu viele Sprünge im Film sind. Dieses Problem könnte der angekündigte Director’s Cut abdämpfen. Lösen wird er die Problematik nicht. Da bin ich mir sicher.
Punkt 6 wird generell erreicht. Die Kostüme stimmen, die großen Schauplätze, aber….
Die unhistorischen Schlachten sind einfach zu schlecht recherchiert. Da stimmt dann der Look überhaupt nicht.





Übrig bleibt also der Mut des Produzenten und Regisseurs überhaupt einen Film wie Napoleon zu drehen (Punkt 1). Ich hatte mich im Vorfeld echt gefragt, wer geht denn da eigentlich ins Kino??? Nur wir?? Die Historiker, Wargamer, Modellbauer, Geschichtsinteressierten?
Bei mir im Kino war das nicht so. Viele junge Leute zwischen 20 und Mitte 30. Viele Paare. Aber was denken die jetzt über Napoleon?? Ehrlich gesagt, ich will es gar nicht wissen.
Übrig bleiben die opulenten Bilder, das Filmische an sich (Punkt 2). Es gibt wirklich großartige Aufnahmen in diesem Film. 
Für mich die einsame Josephine vor ihrem Schloss Malmaison, auf den Teich schauend. Fast schon ein Stillleben. Wäre da noch Nebel gewesen, hätte ich gesagt, Mann, ein echter Casper David Friedrich.



Übrig bleiben Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby, die als Schauspieler ihre Rollen annehmen und auch gut performen; leider – wie oben dargestellt – oftmals an den historischen Tatsachen vorbei (Punkt 3).
Mir wird vor allem die Szene der Krönung in Erinnerung bleiben und der nachfolgende Satz, den Napoleon spricht; und eigentlich, ja eigentlich, reicht das fast schon für mich aus, um nach drei Tagen wieder milder gestimmt zu sein.
 
„Ich fand die Krone Frankreichs in der Gosse. Ich hob sie auf mit der Spitze meines Schwertes. Und nun setze ich sie auf mein eigenes Haupt!“
 
 
VIVE L‘EMPEREUR

 
 
P.S.: Trotz dieser Kritik würde ich mir den Film auf jeden Fall im Kino anschauen. Die Kinoleinwand wirkt halt schon aufgrund ihrer Größe, auch bei diesem Film. Hätte ich ihn paar Wochen später zu Hause auf der Couch geschaut, hätte ich wohl nach einer halben Stunde nach dem Tablet gegriffen und im Internet gestöbert.
Da ich das nicht getan habe, verdränge ich jetzt langsam das Negative, und die schönen, gut gefilmten Szenen, die positiven Bilder brechen sich allmählich Bahn in meiner Denke.
Und das ist gut so.
 
VIVE L’EMPEREUR, VIVE JOSEPHINE